Sonntag, 1. November 2015

Müttererbe



Ria Neumann

Müttererbe - Erzählung

Donat Verlag, 2012













Das Buch beginnt mit einem Segelflug, einem Bild der Freiheit. Mara fliegt.
Doch dann dreht sich das Bild und aus Freiheit wird Dunkelheit.
Die Ich- Erzählerin und beste Freundin Maras betrachtet sie und ihre Mutter Gerine aus dem Blickwinkel einer Frau, die ihre eigene Mutter früh verloren hat und kinderlos geblieben ist.

Im Riesengebirge wird Gerine vor dem zweiten Weltkrieg geboren. Als sie fünfzehn ist, beschließt ihre Mutter, sie nach Prag in ein Kloster zu schicken. Sie sei jetzt alt genug, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Der zweite Weltkrieg hat begonnen und Gerine lernt einen deutschen Offizier kennen, der bald wieder an die Front muss, nicht weiß, dass Gerine schwanger ist. Die Identität des Vaters bleibt ihr Geheimnis.
Das Kind, Margarete, das sich später selbst Mara nennt, ist ungewollt und ungeliebt. Gerine gibt es zu ihrer Tante und kümmert sich nicht mehr. Bis die Tante wenige Jahre später zu alt ist.
Im Stakkato der Gedanken stößt die Geschichte vor, erzählt von Trostlosigkeit und Wut, Angst vor dem Kriegsgeschehen, einer Flucht nach Deutschland und dem Nieankommen. Nirgendwo.

Das klebrige Netz zwischen Mutter und Tochter bildet den Kern der Erzählung. Voller Hass und doch krankhaft abhängig voneinander, machen sich Gerine und Mara das Leben zur Hölle. Die ungeliebte Tochter kann weder gehen, noch sich auf die Liebe zu einem anderen Menschen einlassen.
Meistens im Hintergrund, versucht die Erzählerin zu vermitteln, zu begreifen. Sie sehnt sich nach Harmonie zwischen Mutter und Tochter, sehnt sich nach einer eigenen Geschichte.
Ein Mann, der an Maras Seite auftaucht, ist über Jahre Beiwerk, weniger wichtig als die Katze, der körperliche Nähe maßlos gestattet wird.

Zum Schluss überstürzen sich die Ereignisse, Geheimnisse werden gelüftet, und wäre das alles rechtzeitig geschehen, hätte das Ende ein anderes sein können. Vielleicht.


Ein eindrücklich geschriebenes Buch, das mich die Frauen spüren und sehen lässt, auch die Erzählerin, die nur durch ihre Sicht der Dinge beschrieben wird.
So wenig nah Gerine und Mara sich selbst kommen, so sehr bedrängen sie mich in ihrer Not.
Auch die Erzählerin wird immer wieder dazu verführt, sich Gedanken zu machen, den aus der Spur geratenen Alltag von Freundin und Mutter mitzuleben. Sie beherrschen ihre Umgebung und für eine Zeit auch mich.
Während des Lesens und zwischen Fassungslosigkeit und Wut blitzte immer wieder Verstehen und  Empathie.
'Müttererbe' ist nach einmaliger Lektüre nicht ausgelesen. Ich werde es sicher noch einmal in die Hand nehmen und von vorn beginnen.


Ria Neumann wurde 1941 in Lemwerder geboren und lebt jetzt in Osterholz-Scharmbeck.
Weitere Bücher:

Schwarze Johannisbeeren - Erzählung      Verlag DER NEUE, Delmenhorst, 1998
Glücklos und Niete - Novelle                     Verlag DER NEUE, Delmenhorst, 1998
Die Lücke - Erzählung                              Donat Verlag, Bremen, 2004
Tote Winkel - Kurzgeschichten                  Donat Verlag, Bremen, 2007
Tunnelblick - Roman                                 Donat Verlag, Bremen, 2009

Für das Manuskript 'Schwarze Johannisbeeren' erhielt die Autorin 1996 das Autorenstipendium des Bremer Senators für Wissenschaft, Kultur und Sport.
Im Jahr 2005 bekam sie für die Kurzgeschichte 'Meines Vaters Ringelrosen' (im Band 'Tote Winkel' enthalten) den 'Irseer Pegasus' der Schwabenakademie Irsee.

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